Artikel: Prothesen und Implantate aus einer transhumanen Perspektive

Abstract

Der Transhumanismus beschäftigt sich unter anderem damit, wie Menschen ein längeres, gesünderes und damit selbstbestimmteres Leben ermöglicht werden kann. Das Themenfeld der Prothetik und der Implantate ist daher äußert relevant, da moderne Prothesen und Exoskelette Betroffenen bei einer Vielzahl körperlicher Beeinträchtigungen helfen können, die Folgen einer Erkrankung zu mildern und das Leben im Alltag deutlich zu erleichtern. Da es im Transhumanismus auch um die Verbesserung des Menschen durch fortschrittliche Technologien geht, werden nicht nur medizinische Anwendungen, sondern auch die Möglichkeiten des Enhancements betrachtet. Von Neuroimplantaten über künstliche Herzen bis hin zu Prothesen aus dem 3D-Drucker, stellen wir den aktuellen Stand der Technik dar, auch was wirtschaftliche Aspekte betrifft. Das Recht auf Enhancements begründen wir durch das Recht auf morphologische Freiheit und legen unsere politischen Positionen diesbezüglich dar. Weil sich das Problem der Sicherheit der Patienten mit deren morphologischer Freiheit thematisch überschneidet, wird dies im Anschluss behandelt. Abschließend widmen wir uns gesellschaftlichen Fragestellungen, etwa denen nach der Verantwortung im Umgang mit fortschrittlichen Prothesen und Implantaten, sowie der zu erreichenden Gerechtigkeit, dass medizinische Errungenschaften und technische Möglichkeiten allen Menschen zur Verfügung gestellt werden.

Prothesen und Implantate aus einer transhumanen Perspektive

Einführung

Es ist Donnerstag, der 12. Juni 2014, als ein Milliardenpublikum dabei zusieht, wie ein querschnittsgelähmter Jugendlicher den symbolischen Anstoß zur 20. Fußballweltmeisterschaft ausführt – mithilfe eines Exoskeletts, das er allein mit seinen Gedanken steuert.
Moderne Prothesen, Orthesen, Implantate und Roboteranzüge können Betroffenen bei einer Vielzahl körperlicher Beeinträchtigungen helfen, die Folgen einer Erkrankung zu mildern und das Leben im Alltag deutlich zu erleichtern. Fast täglich kann man neuste medizinische Erfolge auf diesem Gebiet nachlesen: Von Nervenregeneration und Neuroprothesen über Netzhaut-Chips, Cochela-Implantate sowie künstliche Herzen bis hin zu bionischen Prothesen aus dem 3D-Drucker und Exoskeletten, die zusätzliche Kraft verleihen.
Die Verschmelzung von Mensch und Technik hat bereits begonnen und schreitet beschleunigt voran. Lesebrillen werden schon seit über 700 Jahren getragen und immer mehr Menschen kommen heute sowie in naher Zukunft in den Genuss von neuartigen Prothesen und Implantaten zur Wiederherstellung bzw. Verbesserung ihrer Gesundheit oder gar zur Veränderung ihres Aussehens oder zur Erweiterung ihrer Sinne und Gehirnfunktionen.
Wenn ein Computer über Elektroden Hirnströme lesen und deuten kann, vermag er aber nicht nur Gelähmten die natürliche Beweglichkeit zurückzugeben; wenn ein Neuroimplantat die Leistungsfähigkeit des Gehirns verbessern kann, so profitieren nicht nur Parkinson-Patienten davon. Die neuen Errungenschaften der Medizin können auch Gesunden zu übermenschlichen Kräften verhelfen.
Doch diese Tatsache, dass auch Gesunde, ganz normale Menschen, im Prinzip von neuen medizinischen Entwicklungen profitieren können, wirft teilweise ein moralisches Dilemma auf; zumal viele Fragen bezüglich Sicherheit, Eigentumsrechten, Kosten, Abhängigkeiten und morphologischer Freiheit lange noch nicht geklärt sind.
Besonders der Informatik kommt bei der Diskussion um Möglichkeiten und Chancen einerseits sowie Verantwortung und Risiken von Implantaten und Prothesen andererseits, eine entscheidende Bedeutung zu, da sie wesentliche Elemente zur technischen Umsetzung zahlreicher neuer Erfindungen zur Verbesserung der Lebensqualität auf diesem Gebiet liefert.

Zum Transhumanismus

Der Wissenschaft wachsen langsam, aber zunehmend schneller, die Mittel zu, das Ziel eines „Übermenschens“ tatsächlich zu erreichen – allerdings keineswegs immer ethisch unbedenklich und ohne gewisse Risiken. Was müssen wir also heute tun, um für morgen vorbereitet zu sein? Welche Fragen müssen wir jetzt stellen, um in Zukunft, und vor allem rechtzeitig, Antworten zu haben?
Eine philosophische Denkrichtung, die dabei regelmäßig im Gespräch ist, ist der „Transhumanismus“, der im Allgemeinen unter anderem die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz von Wissenschaft und Technologie erweitern möchte.
Der australischer Medizin-Ethiker Julian Savulescu (geboren 1963) sieht es sogar als unsere moralische Pflicht an, die Menschheit zu optimieren. Auch abseits der reinen Biologie bringt nach Überzeugung des bekannten US-amerikanischen Autoren, Erfinders und Futuristen Raymond „Ray“ Kurzweil (geboren 1948) vor allem die molekulare Nanotechnologie die abschließende Verwandlung des Menschens in ein Superwesen, wobei bereits in 10 bis 20 Jahren winzige Roboter schrittweise die Funktionen biologischer Organe erweitern oder sogar ganz übernehmen und übertreffen sollen.
Obwohl der Transhumanismus keine vollkommen homogene Strömung ist, eint Transhumane bzw. Transhumanisten weltweit im Allgemeinen das Streben nach einem langen, gesunden und lebenswerteren Leben sowie eine positive Entwicklung von Mensch und Gesellschaft durch Wissenschaft und Technik; auf dieser Grundlage lassen sich einige charakteristische Merkmale dieser philosophischen Denkrichtung herausstellen.
Der Transhumanismus orientiert sich an vielen modernen humanistischen Idealen (wie der rationalen Vernunft oder einer umfassenden Bildung) sowie der Anerkennung und der respektvollen Wertschätzung allen Lebens – sei es menschlicher oder nichtmenschlicher Art. Darüber hinaus hält er wissenschaftlichen, technologischen aber auch gesellschaftlichen Fortschritt sowie ein glückliches, selbstbestimmtes und erfülltes Leben in Gesundheit, Wohlstand und Freiheit, dazu im Einklang mit der Natur, für erstrebenswert; und zwar ohne spezielle Ausnahmen und ohne Zwänge, ohne willkürlich gezogene Grenzen oder ideologische Beschränkungen.
Im Angesicht einer sich immer schneller und tiefgreifender ändernden menschlichen Umwelt erkennt der Transhumanismus die radikalen und weitreichenden Änderungen in Beschaffenheit und Möglichkeiten des Lebens durch Forschung, Wissenschaft und Technologie sowie die Bedeutung und Chancen einer global vernetzten heterogenen Weltgemeinschaft. Er setzt sich daher dafür ein, gegenwärtige und erwartende zukünftige Entwicklungen sowie ihre Auswirkungen rational und systematisch zu erforschen und bei der Zukunftsplanung zu berücksichtigen, damit deren Möglichkeiten sinnvoll für die Gesellschaft nutzbar gemacht sowie verantwortungsvolle Entscheidungen mit Weitblick getroffen werden können. Der Transhumanismus definiert sich dabei außerdem und auch gerade deshalb durch eine vielfältige, soziale und freiheitliche Gemeinschaft, die sowohl Basis als auch Ziel von Befähigung und Entwicklung ist.
Unter Beachtung eventueller Risiken und ethischer Aspekte tritt der Transhumanismus im Sinne einer „Verpflichtung zum Fortschritt“ dafür ein, die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz neuer technologischer Verfahren und wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erweitern. Dies soll es jedem Menschen in Zukunft ermöglichen, seine Lebensqualität individuell zu verbessern sowie seine physischen und geistigen Fähigkeiten selbst bestimmen und bisher grundlegende menschliche Einschränkungen überwinden zu können.
Eines ist jedenfalls klar: Die Welt verändert sich seit jeher, Wandel und Veränderung sind grundlegende Bestandteile unseres Lebens; auch Menschen und ihre Möglichkeiten werden sich verändern. Die Frage ist nur: Wie können wir dies für uns positiv nutzen?

Aktuelle technologische Entwicklung

Seit tausenden Jahren nutzen Menschen zur Wiederherstellung oder sogar Verbesserung der natürlichen Körperfunktionen unterschiedlichste Prothesen und andere technische Hilfsmittel, die sich seit dem stetig weiterentwickelt haben. In den letzten Jahren hat sich der Fortschritt auf dem Gebiet der Prothetik, zusammen mit der allgemeinen technologischen Entwicklung, allerdings enorm beschleunigt.
Es sind hier aktuell zwei interessante Trends feststellbar:
Zum einen funktionieren immer mehr Implantate und Prothesen besser als die Körperteile, die sie ersetzen und zum anderen werden die künstlichen Bestandteile auch immer günstiger in ihrer Herstellung.

Bezüglich des ersten Trends lässt sich sagen, dass es inzwischen tatsächlich auch „Enhancement-Prothesen“ gibt bzw. in Entwicklung sind, die nicht nur Körperteile ersetzen und eventuell noch verbessern, sondern sogar die ursprünglichen menschlichen Fähigkeiten beträchtlich erweitern.
So konnte man bis vor kurzem mit bionischen Augen kaum mehr als einen schwarz-weißen Pixelbrei wahrnehmen, doch mittlerweile steht die Wissenschaft an der Schwelle zur erweiterten Wahrnehmung des Lichtspektrums.
Dass sich das Gehirn an ein weites Spektrum von verschiedensten Szenarien anpasst, wissen wir bereits, doch was bedeutet es – auf so vielen Ebenen – wenn wir auf einmal Infrarotstrahlung und ultraviolettes Licht sehen und Ultraschall hören könnten?
RFID-Chips unter der Haut, Herzschrittmacher, Cochlea-Implantate und künstliche Gelenke [1] [2] zählen seit Langem zu bekannter medizinischer Routine, doch die jetzige Generation von „biologischen Ersatzteilen“ geht viele Schritte weiter [3], sie ermöglicht das Erleben von bisher kaum vorstellbaren, geschweige denn erlebbaren, Dingen [4].
Bereits in der aktiven Testphase sind beispielsweise die Wahrnehmung des eigenen Blutzuckerspiegels oder des Zustands eines elektronischen Geräts. [5] Die Frage, die diese Entwicklung aufwirft, ist die Frage, inwieweit Ungleichbehandlung sich jetzt ins andere Extrem verlagert, da künstlich „erweiterte“ Menschen auch einen vollkommen anderen Handlungsspielraum besitzen.
Man kann und sollte diese Entwicklung allerdings trotz dieser Möglichkeit positiv sehen, da sie es prinzipiell jedem ermöglicht, transzendente Erlebnisse zu haben.

Der zweite feststellbare große Trend bezieht sich auf Breitenverfügbarkeit und Kostenentwicklung von vielen Prothesenarten.
So werden einige der oben genannten Entwicklungen, und viele weitere, immer schneller immer einfacher verfügbar, und – das ist die größte Veränderung – sehr schnell extrem günstig im Vergleich zum bisher vorherrschenden Niveau.
So liegen die Kosten für Gliederprothesen aktuell fast immer im hohen fünfstelligen Bereich; doch dank neuen Technologien, neuen Materialien und neuen Zugangswegen zu diesen, können die Kosten mittlerweile oftmals in einen niedrigen dreistelligen Bereich gebracht werden.
Konkret hat diese Entwicklung der Erfinder Easton LaChappelle [6] im großen Stil vorangetrieben; er hat eine Prothese gefertigt, die, statt 80 000 Dollar, nur noch wenige hundert Dollar kostet – trotz individueller Anpassung und Beratung usw.
Forscher und Entwickler sind mittlerweile sogar an einem Punkt angelangt, an dem jeder daheim selbst die benötigte Prothese konstruieren und anpassen kann – Zeit, Ressourcen und Vorwissen vorausgesetzt.
Eine weitere Möglichkeit zeigt Amos Dudley [7] auf, ein Student, der aus Geldknappheit einfach seine eigenen Zahnprothesen entwickelt und eingesetzt hat; zu einem Bruchteil der Kosten und in einem Bruchteil der sonst üblichen Zeit.

Auch im Bereich der Bio- bzw. Organtechnologien kann man mittel- bis langfristig eine ähnliche Entwicklung erkennen. Die grundlegenden Technologien besitzt die Menschheit bereits seit geraumer Zeit. [8] [9] Disruptive Potenziale, wie die erläuterten, schlummern aktuell in der gesamten Branche. [10]
Und auch wenn diese Entwicklungen natürlich erst der Anfang sind, zeigen sie doch bereits heute, was möglich ist und wohin die „Reise gehen kann“ und sollte.
Wir haben Hilfsmittel wie den 3D- und bald auch den 4D-Druck [11] [12], 3D-Scanning, Crowdfunding, Open-Source-Design-Plattformen, Echtzeitkommunikation und Möglichkeiten zum Wissenserwerb in einem nie da gewesenen Umfang – das müssen wir nutzen! Denn die sich daraus ergebenden Chancen sollten jedem zur Verfügung stehen, wenn er sie benötigt. [13] Deshalb müssen die sich bietenden Möglichkeiten zur Entwicklung und Bereitstellung dieser Verbesserungen jedermann zugänglich gemacht werden.

Ein weiterer Vorteil unserer heutigen Technologien ist die fast in Echtzeit mögliche Veränderung und Anpassung eigener Ideen.
Ist ein Design erst einmal auf Plattformen wie Thingiverse vorhanden oder wird direkt, beispielsweise via Dropbox oder Facebook, geteilt, kann es jeder verbessen; so können innerhalb weniger Tage viele unglaublich gute Entwürfe entstehen, die im Zweifel durch eine Crowdfundingkampagne finanziert werden können.
Die Chancen, Menschen zu helfen, waren noch nie so groß und so gut wie heute.

Doch, wenn unsere Möglichkeiten sich derart rasant erweitern und derart schnell für jeden zugänglich werden, wo wird uns dies hinführen?
Man kann hierbei vor allem gesellschaftskritische Aspekte erkennen; denn sobald erschwingliche erweiternde Prothetik allgemein verfügbar ist, hat die Gesellschaft möglicherweise das gleiche Problem wie schon heute mit Menschen, die sich genötigt sehen, verschiedene Substanzen zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit einzunehmen. [14]
Man kann argumentieren, dass wir bereits mit diesen verhältnismäßig einfachen Mitteln andere Arten von Menschen schaffen.
Streng genommen machen wir dies seit den ersten Prothesen bereits, denn wer weiß, wie die eingesetzten Werkstoffe mit den Körpern wechselwirken, welche Gene durch implantierte Herzschrittmacher und Titanhüftgelenke an- oder ausgeschaltet werden? Und wie wird dies erst mit erweiterten Sinnen und verbesserten Interaktionsmöglichkeiten? Wie wird ein Arm, der hundertmal belastbarer als normal ist, unseren Alltag verändern? Können wir die potenziellen Auswirkungen auch nur im Entferntesten absehen?
Die Frage, die Juan Enriquez in seinem TED-Talk [15] gestellt hat, stellt sich daher anders:
Die Frage ist nicht, ob unsere Kinder eine andere Spezies als wir sein werden, sondern ob unsere momentan „Schwächsten“ systematisch dabei sind, sich in eine andere Spezies zu entwickeln.

Denn diese sind die Ersten, die von vielen unserer neuen Technologien am meisten profitieren.
Eines kann man momentan mit Sicherheit sagen: Die Zeiten, in denen wir einfach nur versucht haben, die normale Funktionalität von Körperteilen wiederherzustellen, sind zu Ende.
Möglicherweise erleben wir damit aktuell, neben direkten Eingriffen in die Biologie, in Echtzeit eine weitere Facette der Evolution des Menschen.
Wenn wir adäquat mit den neuen technologischen Möglichkeiten umgehen, kann eines Tages vielleicht jeder unbeschwert und schneller als ein Rennpferd laufen, sofern er das möchte. [16]

Morphologische Freiheit

Das Konzept der morphologischen Freiheit wurde in den 90ern vom transhumanistischen Philosophen Max More (geboren 1964) geprägt, und meint die Freiheit, den eigenen Körper durch Technologie nach Belieben verändern zu dürfen. Seine Begründung erfährt das Prinzip der morphologischen Freiheit im Recht auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung. Als unumstrittener Eigentümer seines Körpers soll jeder Mensch, so weit wie vernünftig und praktisch möglich, über eben diesen verfügen, und ihn nach seinen eigenen Vorstellungen verändern dürfen.
Wo hat morphologische Freiheit ihre Grenzen? Sieht man morphologische Freiheit als Freiheitsrecht an, so ist dieses vernünftigerweise dort begrenzt, wo die Freiheit anderer unangemessen eingeschränkt wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn eine Körpermodifikation für andere gefährlich werden kann. Der Staat hat in solchen Fällen das Recht regulierend einzugreifen, wie dies auch in anderen Situationen der Fall ist: Kraftfahrzeuge und Waffen dürfen beispielsweise nur nach Erwerb einer angemessenen Lizenz geführt werden.
Zunächst einmal tritt die morphologische Freiheit als negative Freiheit in Erscheinung, welche es dem Staat untersagt, unangemessene oder willkürliche Verbote oder Gebote bezüglich der Veränderung des eigenen Körpers zu setzen. Andererseits stellt sich auch natürlicherweise die Frage, ob morphologische Freiheit positiv zu verstehen ist, als Anrecht auf gewisse erwünschte Körpermodifikationen. Ein solches Anrecht scheint jedoch im Widerspruch zu stehen mit der allgemeinen Leitlinie, dass nur medizinisch notwendige Eingriffe durch die Allgemeinheit zu tragen sind. Optionale Körpermodifikationen scheinen das Kriterium der medizinischen Notwendigkeit nicht zu erfüllen. Kann dieser Widerspruch überwunden werden?
Eine auf Freiheitlichkeit ausgerichtete Medizin und Solidargemeinschaft könnte tatsächlich die Lösung sein. Sofern man die Erhöhung menschlicher Freiheit als Maxime der Medizin auffasst, ergibt eine positive Interpretation morphologischer Freiheit durchaus Sinn. In diesem Kontext sehen wir Freiheit als prinzipiell quantifizierbare Größe, welche durch die Anzahl der Handlungsmöglichkeiten eines Individuums definiert ist. Krankheiten und Behinderungen schränken die Möglichkeiten eines Individuums zumindest teilweise ein. Daher ist es offensichtlich eine gute Idee, zu versuchen Krankheiten und Behinderungen zu heilen, oder zumindest abzumildern.
Andererseits sind die Möglichkeiten, die Menschen offen stehen, prinzipiell durch die Eigenheiten unserer Physiologie eingeschränkt. Die Grenzen unsrer körperlichen und geistigen Möglichkeiten, sowie unserer Wahrnehmungsfähigkeit, lassen sich schon jetzt durch Technologie teilweise verschieben. In Zukunft werden wir vor der Aufgabe stehen unsere eignen Grenzen durch immer beeindruckendere technologische Möglichkeiten wieder und wieder zu erweitern und neu zu setzen.
Wie lässt sich beurteilen wie sinnvoll und förderungswürdig solche „Enhancements“ sind, welche darauf abzielen die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen zu erweitern? Zunächst einmal sollte man abschätzen, wie die Gesamtfreiheit des jeweiligen Individuums durch ein bestimmtes Enhancement verändert wird. Handelt es sich nur um eine modische Spielerei, oder um eine wertvolle Bereicherung? Gerade bei Implantaten, welche es ermöglichen wichtige Vitaldaten aufzuzeichnen, oder geistige Fähigkeiten zu erweitern, wird schnell klar, dass solche Enhancements sowohl für das Individuum, als auch die Gesellschaft als Ganzes äußerst wertvoll und erstrebenswert sein können.
Als sinnvolle Richtgröße, ob die Kosten für ein Enhancement, oder auch nur für eine „konventionelle“ Prothese, von Krankenkrassen übernommen werden sollte, kann der „Freiheitszuwachs pro Euro“ (im Folgenden mit „FpE“ abgekürzt) herangezogen werden. Natürlich ist es äußerst schwer Abstrakta wie „Freiheit“ zahlenmäßig abzuschätzen, aber als vernünftige Richtgröße, die stets nach bestem Wissen und Gewissen angewandt werden sollte, dürfte der individuelle FpE hinreichend nützlich, praktikabel, und gerecht sein. Liegt der FpE für ein Enhancement, über einer gewissen Schwelle, sollten die Kosten dafür von den Krankenkassen grundsätzlich übernommen werden.

Sicherheit

Wie praktisch alle Technologien bergen Prothesen und Implantate gewisse Risiken. Bei elektronischen Prothesen und Implantaten besteht grundsätzlich das Problem, dass diese von Schadsoftware befallen werden können. Der stringenten Umsetzung höchster Sicherheitsstandards für Prothesen und Implantate fällt eine große Bedeutung zu, da Nachlässigkeiten in diesem Bereich durchaus letale Folgen haben können.
Sicherheitstechnisch hat Open-Source-Software durchaus erhebliche Vorteile. Allerdings ist die Finanzierung professioneller Open-Source-Software meist eine sehr diffizile Angelegenheit. Eine Verpflichtung für Prothesen und Implantate nur Open-Source-Software verwenden zu dürfen, könnte die Situation durchaus verbessern. Was Patienten jedenfalls nicht wollen, sind geheime Backdoors, die von Unternehmen oder Regierungen in ihre Prothesen und Implantate eingeschleust werden, und deren Manipulation, oder auch nur das Sammeln persönlicher medizinischer Daten erlauben.
Auch die gezielte Forderung und Förderung von Sicherheitsstandards, auch abgesehen von der Frage, ob die eingesetzte Software Open Source oder proprietär sein soll, ist sicher im Interesse von Patienten.

Soziales

Droht die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinanderzugehen, sobald sich Reiche mit Technologie noch weiter aufrüsten? Grundsätzlich entsteht durch die Möglichkeit von Enhancements eine neue Dimension, in welcher sich Reiche von Armen abheben können. Allerdings können durch Prinzipien wie der finanziellen Förderung von Freiheit die praktischen Unterschiede zwischen Arm und Reich zumindest abgemildert werden. Zusätzlich kann dieser Entwicklung durch die rapide Verbreitung von Technologien und deren Zugänglichkeit für jeden entgegengewirkt werden.
Wenn Enhancements für alle ökonomisch erschwinglich sind, entsteht durch eine zunehmende „Cyborgisierung“ der Gesellschaft potenziell ein Zugzwang, mit gewissen allgemein erwarteten Enhancements mitzuziehen.
Morphologische Freiheit muss aber auch bedeuten, dass man sich bewusst gegen medizinische Eingriffe und Enhancement entscheiden kann, selbst wenn dies negative gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen kann. Letztendlich sollten wir den Wert von Freiheit und Vielfalt betonen, um gezielt all die Chancen nutzen, die sich uns bieten.

Über die Autoren …

Michael Hrenka hat Mathematik und Physik studiert. Seine Kerninteressen sind Zukunft, Wirtschaft und Philosophie, insbesondere Ethik und Transhumanismus, wobei er Beiträge für Thinktanks wie Transpolitica und dem Institute for Ethics and Emerging Technologies verfasst hat.
Benjamin Eidam hat in Deutschland und Schottland Wirtschaftsingenieurwesen studiert sowie Onlinestudiengänge in u. a. Komplexitätswissenschaften und Terrorismusbekämpfung besucht. Seine Kerninteressen und Wirkgebiete sind die Zukunft und deren Beeinflussung bzw. Erforschung sowie individuelle Autarkie.
Steven Bärwolf hat Physik und Mathematik an der Universität Jena studiert. Seine Kerninteressen sind Wissenschaft, Bildung, neue Technologien, Transhumanismus sowie Zukunft im Allgemeinen.

Michael Hrenka, Benjamin Eidam und Steven Bärwolf sind Gründungsmitglieder der „Transhumanen Partei Deutschland“ (kurz TPD), die im September 2015 gegründet wurde, um die Werte und Ziele des Transhumanismus in Deutschland bekannt zu machen und auch in politische Diskussionen mit einzubringen. Die TPD möchte Visionen aufzeigen sowie insbesondere einen rationalen und transparenten Dialog über die aktuellen Herausforderungen führen, die durch Technologie entstehen. Das Bestreben ist es dabei, durch das Prinzip der öffentlichen Wissenschaft, zusammen mit Experten und gemeinsam als demokratische Gesellschaft, Lösungskonzepte für aktuelle und zukünftige Probleme zu erarbeiten, die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien zu fördern und deren Chancen zum Wohle aller zu nutzen.

Quellen

[1] https://www.ted.com/talks/hugh_herr_the_new_bionics_that_let_us_run_climb_and_dance
[2] https://www.ted.com/talks/aimee_mullins_prosthetic_aesthetics
[3] http://detektor.fm/wissen/cybathlon-2016-athleten-mit-prothesen
[4] https://www.ted.com/talks/neil_harbisson_i_listen_to_color
[5] https://www.ted.com/talks/david_eagleman_can_we_create_new_senses_for_humans
[6] http://theroboarm.com/
[7] http://amosdudley.com/weblog/Ortho
[8] https://www.ted.com/talks/nina_tandon_could_tissue_engineering_mean_personalized_medicine
[9] http://wyss.harvard.edu/viewpage/461/
[10] https://www.youtube.com/watch?v=aQsAHhRxwvw
[11] https://www.ted.com/talks/joe_desimone_what_if_3d_printing_was_25x_faster
[12] http://www.iflscience.com/technology/explainer-what-4d-printing
[13] https://www.youtube.com/watch?v=9NOncx2jU0Q
[14] http://www.klinikum-nuernberg.de/DE/aktuelles/knzeitung/2012/201202/neuro-enhancer.html
[15] https://www.ted.com/talks/juan_enriquez_will_our_kids_be_a_different_species?language=en
[16] http://www.welt.de/sport/article111981331/Beinamputierter-Pistorius-schneller-als-ein-Pferd.html